Richter Quattrocchi und die Kunst der Selbstwiderlegung – Wie man Grundrechte aushebelt – in fünf Akten
Wenn ein Richter gleich fünf verschiedene – und sich gegenseitig widersprechende – Begründungen heranziehen muss, um das Fehlen eines Sprachmittlers zu rechtfertigen, drängt sich eine unbequeme Wahrheit auf: Es geht nicht um Rechtsauslegung, sondern um Rechtsverweigerung.
So geschehen vor dem italienischen Untersuchungsgericht in Termini Imerese , das unter dem Vorsitz von Richter Quattrocchi die Haftprüfung einer deutschen Angeklagten durchführte – ohne Dolmetscher.
Ein sprachlicher Hilferuf, der überhört wurde
Manchmal genügt ein einziges Wort, um eine ganze Verfahrenssituation zu entlarven. Gleich zu Beginn der Haftprüfung bat die Angeklagte wiederholt um einen „traduttore“ – nicht um einen „interprete“.
Dieser scheinbar harmlose Fehler hätte dem Richter bereits im ersten Satz zeigen müssen, dass die Beschuldigte nicht einmal über die sprachliche Präzision des Alltags verfügt, um die Begriffe korrekt zu verwenden.
Wie sollte sie dann in der Lage sein, juristisch Begriffe wie „oltraggio a pubblico ufficiale“ (Beamtenbeleidigung) zu verstehen oder ihre „Geschäftsführung ohne Auftrag“ (gestione di affari altru senza incarico) zu erklären?
Die Nutzung von Übersetzer statt Gerichtsdolmetscher mag sprachlich klein erscheinen – juristisch ist sie ein Alarmsignal.
Ein Strafprozess lebt vom Verstehen und vor allem vom Verstanden werden – sprachlich wie sachlich. Wer diesen Maßstab ignoriert, instrumentalisiert das Verfahren gegen die Person, die es eigentlich schützen soll.
Akt I: Sie versteht alles sehr gut
Die erste Ausrede wirkt fast schon naiv: Die Angeklagte brauche keinen Dolmetscher, da sie „sehr gut verstehe“. Diese Einschätzung erging – bemerkenswerterweise – von Amts wegen, ohne jegliche Sprachprüfung, ohne Rückgriff auf Sprachgutachten, ohne Nachweis.
Dabei ist die gesetzliche Regel eindeutig: Schon bei Zweifeln an der Sprachkompetenz ist ein Dolmetscher zu bestellen (§ 143 c.p.p.). Ein subjektiver Eindruck des Richters ersetzt keine Verfahrensgarantie.
Akt II: Es gibt keinen Dolmetscher im Gebäude
Einmal abgesehen davon, dass in einem urbanen Justizumfeld stets ein Dolmetscher erreichbar wäre – spätestens über das offizielle Verzeichnis der Gerichtssachverständigen – stellt sich eine einfache Frage:
Warum wurde nicht bereits am Vortag ein Dolmetscher organisiert?
Denn dass die Beschuldigte der italienischen Sprache nicht ausreichend mächtig ist, war den Behörden bekannt: Die Carabinieri hatten ihr das Informationsblatt über die Rechte der festgenommenen Person in deutscher Sprache ausgehändigt – genau so liegt es auch in der Akte.
Die Behauptung, man habe „niemanden vor Ort“ gehabt, offenbart deshalb kein logistisches Problem, sondern organisierte Nachlässigkeit – mit klaren Folgen für die Verteidigungsrechte der Angeklagten.
Akt III: Laut Cassazione ist für die Haftprüfung kein Dolmetscher vorgesehen
Diese Behauptung ist schlicht falsch – und gefährlich.
Weder der italienische Kassationsgerichtshof noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) haben je festgestellt, dass bei einer Haftprüfung auf einen Dolmetscher verzichtet werden darf.
Im Gegenteil: Die CEDU verlangt die sofortige Sprachmittlung bei jeder Verfahrenshandlung, die die Rechte der Verteidigung berührt (Art. 6 Abs. 3 lit. a und e EMRK).
Hier wird also mit einer fingierten Rechtslage argumentiert – ein Tabubruch für jede richterliche Entscheidung.
Akt IV: Es wird später übersetzt
Der Höhepunkt der Absurdität: Die Sprache kommt später. Dass eine nachträgliche Übersetzung eines Verfahrensakts niemals die unmittelbare Verständlichkeit während der Anhörung ersetzen kann, ist nicht nur juristischer Konsens, sondern auch gesunder Menschenverstand. Wer einem Beschuldigten erst nachträglich erklärt, was in der Haftprüfung geschah, beraubt ihn jeder Möglichkeit zur aktiven Verteidigung – ein klarer Verstoß gegen das Recht auf Waffengleichheit und das Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens.
Akt V: Es lag höhere Gewalt vor
Wenn alles andere scheitert, hilft der Griff zur Notlüge: „forza maggiore“, höhere Gewalt. Doch dieses Institut ist im Strafprozess eng definiert – es betrifft Ereignisse wie Naturkatastrophen, Krieg oder unvorhersehbare Ausfälle.
Ein fehlender Dolmetscher, der nie angefordert wurde, erfüllt diese Voraussetzungen in keiner Weise. Die Berufung auf „höhere Gewalt“ ist hier nichts weiter als der Versuch, eine willentlich herbeigeführte Rechtsverletzung nachträglich zu legitimieren.
Die Logik bricht zusammen: fünf Ausreden, fünf Widersprüche
Was diesen Fall noch gravierender macht als die bloße Rechtsverletzung, ist die Art, wie sich der Richter selbst entlarvt hat.
Die fünf Begründungen, mit denen er die Anwesenheit eines Dolmetschers verweigerte,
sind nicht nur rechtlich fragwürdig –
sie widersprechen sich gegenseitig.
- „Sie versteht alles gut“ → also kein Dolmetscher notwendig
- „Es war kein Dolmetscher verfügbar“ → also doch notwendig – aber angeblich nicht erreichbar
- „Laut Kassation ist keiner nötig“ → erfindet eine Rechtsprechung, die nicht existiert
- „Es wird später übersetzt, wenn nötig“ → gibt indirekt zu, dass sie es nicht verstanden hat
- „Höhere Gewalt verhindert die Anwesenheit“ → beruft sich auf eine Ausnahmesituation, die nicht vorlag
Das ist keine juristische Begründung. Das ist ein Kartenhaus aus Ausreden, das in sich zusammenfällt.
Wäre der Richter im Recht gewesen, hätte eine einzige, klare Begründung genügt. Stattdessen wechselte er fünfmal die Argumentation – in wenigen Minuten.
Das ist nicht Gesetz – das ist die Angst vor Kontrolle. Denn ein Dolmetscher bedeutet:
-
Protokoll,
-
Nachvollziehbarkeit,
-
und vor allem: eine Angeklagte, die sich wehren kann.
Warum also dieser panische Widerstand gegen ein Grundrecht? Weil klar war: Wenn sie versteht, kann sie verteidigen. Und wenn sie sich verteidigt, hält das ganze Verfahren nicht mehr.
Das war kein Versehen. Das war die bewusste Entscheidung, die Sprache zur Waffe zu machen.
