Kaltgestellt – Die Pathologisierung des Widerstands im repressiven System Ein Essay über die Strategien moderner Delegitimierung
Repressive Systeme haben kein Interesse an Widerworten. Kritik gefährdet das Machtmonopol, unterhöhlt die Inszenierung der Ordnung und öffnet Räume, die nicht kontrollierbar sind. Doch die Reaktion auf Widerstand ist nicht immer offen autoritär. Viel effizienter – und subtiler – ist die administrative, psychologische und diskursive Kaltstellung: Der Staat erklärt den Kritiker zum Problem. Die Person wird entpolitisiert, entmenschlicht, pathologisiert. Dieser Essay analysiert, mit welchen rhetorischen, institutionellen und juristischen Mitteln der Widerstand delegitimiert und seine Träger*innen stigmatisiert werden.
Der Querulant – Der Klassiker der bürokratischen Immunabwehr
Die Figur des „Querulanten“ ist ein juristisches Artefakt mit tiefer ideologischer Funktion. In der Rechtsprechung, insbesondere im Verwaltungs- und Sozialrecht, dient das Etikett „Querulanz“ der Immunisierung gegen unliebsame Antragsteller*innen. Was als „übertriebene Rechthaberei“ oder „prozessuale Wut“ etikettiert wird, ist oft schlicht: Beharrlichkeit. Das Einfordern von Rechten, das nicht weichen will.
Der Querulant ist nicht nur lästig – er wird als irrational, gar krankhaft dargestellt. Die Justizpathologisierung mündet in Maßnahmen wie der Einschränkung der Prozessfähigkeit (§ 104 ZPO) oder der zwangsweisen psychiatrischen Begutachtung. Der Inhalt der Kritik wird nicht mehr geprüft, weil der Kritiker bereits diskreditiert ist.
Die Hysterikerin – Gender als Disqualifikation
Besonders Frauen, die sich wehren, werden oft in die Nähe der „Hysterie“ gerückt – ein Begriff mit langer, misogyn gefärbter Geschichte. Die moderne Variante ist weniger medizinisch, aber nicht minder abwertend: „emotional“, „übergriffig“, „unangemessen laut“.
Die Strategie ist dabei klar: Wer Emotionen zeigt, verliert die Sachlichkeit – und mit ihr das Recht, ernst genommen zu werden. Hysterisierung dient der Disziplinierung von weiblichem Protest, sei es im Gerichtssaal, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit.
Die psychisch Kranke – Pathologisierung als Stillstellungsmechanismus
Wenn Kritik nicht zum Verstummen gebracht werden kann, wird sie psychologisiert. Die Behördenakte spricht dann von „auffälligem Verhalten“, „verfolgungsartigem Denken“, „Realitätsverlust“. Psychiatrische Diagnosen werden als Waffe eingesetzt – nicht primär zur Heilung, sondern zur Disqualifikation.
Psychiatrie ist in repressiven Kontexten nicht nur ein medizinisches Feld, sondern ein Machtinstrument. Die Schwelle zur Zwangseinweisung – etwa nach § 63 StGB oder § 1906 BGB – kann zur ultima ratio gegen renitente Bürger*innen werden. In manchen Fällen erfolgt die Einweisung nicht wegen tatsächlicher Gefahr, sondern weil die Person nicht in die verwaltungskonforme Normalität passt.
Die Verschwörungstheoretikerin – Das Label der Zeit
Eine weitere Technik des Kaltstellens: die Kritik wird als „Verschwörungstheorie“ abgetan. Dabei reicht oft schon das Infragestellen institutioneller Narrative, um als „systemfeindlich“ oder „extremistisch“ zu gelten. Die Grenze zwischen legitimer Skepsis und pathologischer Paranoia wird politisch gezogen – und zwar durch jene, die Kritik am meisten fürchten.
Während sich autoritäre Systeme durch mediale Gleichschaltung, staatliche Repression und Zensur stabilisieren, nutzen demokratisch bemäntelte Systeme die Macht der Etikettierung. Wer als „Spinner“ gilt, verliert den Zugang zum öffentlichen Diskurs – ohne dass je über Inhalte gesprochen wurde.
Die Verwalteten – Bürokratische Erstickung
Nicht selten geschieht die Entwaffnung des Widerstands durch administrative Prozesse: Verfahren werden verschleppt, Zuständigkeiten verschoben, Fristen versäumt – und dem Betroffenen die Schuld zugeschoben. Intransparentes Verwaltungshandeln erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht. Das System funktioniert nicht durch Einschüchterung, sondern durch Ermüdung.
Hier zeigt sich ein paradoxes Moment: Die Rechtsstaatlichkeit wird formal eingehalten, ihre Substanz aber ausgehöhlt. Wer sich wehrt, sieht sich nicht mit Gewalt konfrontiert – sondern mit einem Labyrinth, das keine Ausgänge kennt.
Die Gewalt der Normalität
Die effektivsten Repressionen sind jene, die sich als Normalität tarnen. Die Delegitimierung von Widerstand durch Pathologisierung, Hysterisierung, Bürokratisierung ist kein Exzess, sondern systemisches Kalkül. Sie soll abschrecken, zermürben, isolieren.
Widerstand wird nicht besiegt – sondern unmöglich gemacht. Nicht durch offene Unterdrückung, sondern durch den Entzug von Bedeutung. Wer das System infrage stellt, wird nicht nur bekämpft – er wird aus dem Diskurs getilgt.
Der Preis? Eine Demokratie, die den Widerspruch nicht mehr aushält, verliert ihre Substanz. Was bleibt, ist eine demokratische Fassade, hinter der autoritäre Logiken längst Raum greifen.
Und genau das darf nicht normal werden.
