Die Justiz im Spiegel – wenn Gerichte aufhören, rot zu werden

Es gibt eine Form der Befangenheit, die kein Gesetz kennt.
Sie hat kein Gesicht, aber viele Masken.
Man erkennt sie nicht an Korruption oder Klüngel,
sondern an etwas viel Gefährlicherem:
am Schweigen der Justiz, wenn sie sich selbst verteidigt.

Artikel 11 der italienischen Strafprozessordnung –
diese unscheinbare Vorschrift über die rimessione –
ist in Wahrheit ein moralisches Fieberthermometer.
Er misst nicht den Bürger, sondern das System.
Und das Fieber steigt genau dann,
wenn nicht mehr der einzelne Richter das Problem ist,
sondern das ganze Gericht.

Es ist kein Skandal im klassischen Sinn,
sondern eine Autoimmunerkrankung der Institution:
die Justiz beginnt, sich gegen jede Form der Selbstkritik zu wehren –
und nennt das dann Unabhängigkeit.

Man will nicht mehr gerecht sein,
man will unantastbar sein.
Und das ist der Moment, in dem das Recht stirbt –
leise, sauber, formal korrekt.

Denn wenn ein Gericht anfängt, sich selbst zu schützen,
hört es auf, das Gesetz zu schützen.
Dann wird die Loyalität zur Behörde wichtiger
als die Treue zur Wahrheit.
Dann hält man Fehler nicht mehr für menschlich,
sondern für Majestätsbeleidigung.

So entsteht institutionelle Befangenheit:
nicht aus Zuneigung, sondern aus Angst.
Aus der Angst, das eigene System zu beschämen.
Aus dem Reflex, lieber zusammenzuhalten als hinzusehen.

Aber wer sich selbst für unfehlbar erklärt,
hat das Urteil über sich längst gesprochen.
Denn die wahre Würde der Justiz liegt nicht in ihrer Autorität,
sondern in ihrer Fähigkeit, zu erröten.

Art. 11 c.p.p. ist deshalb kein Formalismus,
sondern ein Stethoskop –
man hört damit, ob das Herz der Justiz noch schlägt.
Und oft hört man nur Routine:
ein gleichmäßiges Pochen aus Formularen,
aber keinen Puls des Gewissens.

Die Öffentlichkeit spürt das.
Sie hört den Klang leerer Worte,
sieht die steifen Gesichter,
und merkt:
Hier wird nicht mehr geprüft,
hier wird verwaltet.

Eine Justiz, die sich selbst nicht mehr befragen lässt,
hat längst aufgehört zu richten.
Denn wer nicht mehr rot wird,
kann kein Richter mehr sein.