Der Fall Evarella:  Protokoll einer gezielten Entrechtung während der Haftprüfung

Ein Kommentar über die systematische Missachtung von Rechten durch den Vorsitzenden Richter Quattrocchi in der Haftprüfung

Im Rechtsstaat sind Fehler möglich – aber wenn sich Verfahrensfehler derartig häufen und ausnahmslos zulasten der Angeklagten wirken, ist es legitim, von einem bewussten Rechtsbruch zu sprechen.

Genauso wirkt das, was sich in der Haftprüfung unter dem Vorsitz von Richter Quattrocchi abgespielt hat: Eine Entrechtung in Serie.

Besonders verstörend wirkt dies vor dem Hintergrund seiner fachlichen Qualifikation: Alessandro Quattrocchi promovierte mit einer Dissertation mit dem Titel „Präventionsrecht und Grundrechtsschutz: Vom Kampf gegen die organisierte Kriminalität zum europäischen Modell der Vermögensabschöpfung – eine Arbeit, die sich explizit mit dem Spannungsfeld zwischen staatlicher Repression und Grundrechtsschutz befasst.

Ein Überblick über das, was nicht hätte passieren dürfen – aber trotzdem geschah.

 1. Der Dolmetscher – oder: fünf Ausreden und kein Recht

Die detaillierte Analyse zur verweigerten Sprachmittlung wurde bereits im Artikel „Richter Quattrocchi und die Kunst der Selbstwidersprüche“ dargelegt.

 2. Keine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Durchsuchung

Bereits ein erster Blick in die Ermittlungsakte hätte dem Richter zeigen müssen, dass erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der  durchgeführten Durchsuchung bestehen.

 Der Haftrichter ist – gestützt auf Art. 13 und Art. 111 der italienischen Verfassung sowie auf Art. 292 der Strafprozessordnung und Art. 6 EMRK – verpflichtet, nicht nur die formale Ordnungsmäßigkeit der Maßnahmen zu prüfen, sondern auch deren materielle Rechtmäßigkeit.

Dazu gehört insbesondere die Prüfung, ob die Durchsuchung auf einer gültigen, begründeten Anordnung beruht, ob sie ordnungsgemäß durchgeführt wurde und ob sie verhältnismäßig war.

Diese Überprüfung ist nicht fakultativ, sondern ein zwingender Teil richterlicher Kontrollverantwortung. Dass sie in diesem Fall entweder gänzlich ausblieb oder zu einem objektiv unvertretbaren Ergebnis führte, ist Ausdruck gravierender rechtsstaatlicher Fehlsteuerung.

 3. Keine Beweise für den zentralen Vorwurf – trotzdem Haft

Der zentrale Vorwurf „Diebstahl in einem bewohnten Gebäude“ (furto in abitazione) blieb im gesamten Verfahren völlig unbelegt:

Es existieren keinerlei Beweismittel, die diesen Tatbestand auch nur ansatzweise stützen könnten.

  • Keine Fotos des angeblich gestohlenen Hundes
  • Keine Bilder oder Beschreibung des angeblich „bewohnten“ Gebäudes
  • Keine Dokumentation oder Begehungsprotokolle vom angeblichen Tatort
  • Nicht einmal der Nachweis, dass der Hund tatsächlich dem Anzeigeerstatter gehörte

Ein so gravierender Vorwurf wurde also weder objektiv dokumentiert noch juristisch nachvollziehbar belegt – und trotzdem zur Grundlage einer Hausdurchsuchung gemacht.

Auch zu den Vorwürfen, die sich auf die Hausdurchsuchung selbst beziehen – also jene, die letztlich zur Verhaftung führten – fehlt jegliches belastbares Material: Keine Fotos, keine Videos, keine Protokolle, die das Verhalten der Angeklagten belegen. Nur die widersprüchlichen Behauptungen der Carabinieri.

Ein Richter, der die Akte liest – wie es ihm nach Art. 292 c.p.p., Art. 111 der italienischen Verfassung und Art. 6 EMRK ausdrücklich obliegt – hätte dies sofort erkennen und rechtlich würdigen müssen.

Dass dies unterblieb, ist nicht erklärbar – außer als Ausdruck gezielter richterlicher Nachsicht gegenüber einer unbelegten Anklage.

 4. Der Hund: Mischlung, alt – und rechtlich irrelevant

Ein zentrales Element der Anklage war der Vorwurf, die Angeklagte habe einen Hund „gestohlen“. Ein Blick in die Ermittlungsakte – insbesondere in den Bericht der Carabinieri – hätte jedoch ausgereicht, um den Vorwurf als haltlos zu entlarven: Die Carabinieri schreiben selbst, dass es sich um einen hinkenden Mischling im Alter von etwa 15 Jahren handelte – ein Tier also, das objektiv keinen wirtschaftlichen Wert hatte.

Damit

  • entfällt das zentrale Element des Diebstahls: die Bereichungsabsicht
  • war auch die zentrale Voraussetzung für die Annahme eines die Durchsuchung rechtfertigenden Diebstahls nicht erfüllt.

Trotzdem wurde dieser Vorwurf weitergetragen, ohne rechtliche Neubewertung – als Grundlage für eine Durchsuchung und eine Freiheitsentziehung.

Dass ein Richter diesen Umstand nicht erkannt haben will, obwohl er klar und unübersehbar in der Ermittlungsakte stand, ist nur schwer nachvollziehbar.

5. Ein rechtswidriger Durchsuchungsbeschluss – und eine ebenso rechtswidrige Durchsuchung

Die Ermittlungsakte zeigt klar: Der Durchsuchungsbeschluss wurde nicht zur Aufklärung einer Straftat, sondern zur Durchsetzung vermeintlicher zivilrechtlicher Ansprüche herangezogen – ein klarer Missbrauch strafprozessualer Zwangsbefugnisse.

Hinzu kam, dass auch die Durchführung der Durchsuchung selbst gegen grundlegende Verfahrensregeln verstieß – in Bezug auf Verhältnismäßigkeit, Zeitpunkt, Zielrichtung und Dokumentation.

Nach Art. 247 c.p.p. darf eine Durchsuchung nur angeordnet werden, wenn ein konkreter strafrechtlicher Verdacht besteht und sie unbedingt erforderlich ist, um Beweismittel aufzufinden. Die Zweckentfremdung zur Durchsetzung zivilrechtlicher Interessen ist damit offensichtlich rechtswidrig.

6. Kein Straftatbestand – selbst bei Schuldeingeständnis

Selbst wenn man sämtliche Vorwürfe der Carabinieri bei der Hausdurchsuchung als wahr unterstellt, ergibt sich kein Straftatbestand: Denn die Handlungen stellen nach Lage der Dinge allenfalls einen legitimen Widerstand gegen eine unrechtmäßige Maßnahme dar – was nach Art. 393-bis c.p. (Reazione legittima a un atto arbitrario) nicht strafbar ist. Diese Möglichkeit blieb vollständig unberücksichtigt.

7. Hausarrest durch Carabinieri – unzulässig

Noch gravierender: Der Hausarrest wurde nicht durch einen Richter, sondern direkt von den Carabinieri angeordnet, obwohl nach Art. Art. 284 c.p.p. jede Freiheitsbeschränkung ausdrücklich von einem Richter angeordnet werden muss. Auch das ist aus der Akte eindeutig ersichtlich – übersehen oder bewusst ignoriert?

8. Freiheitsentzug ohne rechtliche Grundlage – doppelt rechtswidrig

Sowohl die Ingewahrsamnahme als auch der darauffolgende Hausarrest waren in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig – und hätten vom Richter umgehend für unzulässig erklärt werden müssen.

Zum einen war die Maßnahme formell unzulässig: Der Hausarrest wurde nicht durch einen Richter, sondern direkt von den Carabinieri angeordnet.

Zum anderen war sie auch inhaltlich unbegründet: Selbst wenn man alle von den Carabinieri beschriebenen Handlungen als wahr unterstellt, hätten sie keinen Straftatbestand erfüllt – sondern wären als legitimer Widerstand gegen eine rechtswidrige Durchsuchung zu werten gewesen.

Ein rechtsstaatliches Verfahren hätte sowohl die formale Zuständigkeit als auch die materielle Rechtmäßigkeit umfassend geprüft – und die Maßnahmen klar als rechtswidrig erkannt.
Richter Quattrocchi tat weder das eine noch das andere – sondern hob den Hausarrest auf, ohne die Unrechtmäßigkeit der vorangegangenen Freiheitsentziehung auch nur zu benennen.

9. Keine formale Mitteilung der Tatvorwürfe

Während der gesamten Anhörung wurden der Angeklagten weder die Tatvorwürfe formell mitgeteilt, noch wurden die wesentlichen Dokumente verlesen oder auch nur zusammengefasst.

Der Richter beschränkte sich auf eine einzige Frage an den Verfasser des Polizeiprotokolls:

GIUDICE: Comandante, si riporta al verbale di arresto? Lo conferma?
VERBALIZZANTE: Sì, lo confermo.

Aber genau diese generische Formulierung hatte eine entscheidende Wirkung: Sie verhinderte systematisch, dass die vorgeworfenen Tatsachen überhaupt benannt wurden – und machte es der Angeklagten so unmöglich, sie zu verstehen oder sich dagegen zu verteidigen. Eine keineswegs zufällige Auslassung: Die Frage diente nicht dazu, die Vorwürfe zu klären – sondern dazu, zu verhindern, dass die Angeklagte sich dagegen wehren konnte.

Eine effektive Verteidigung war unter diesen Umständen unmöglich – selbst für einen italienischen Muttersprachlicher.

10. Keine Erklärung für die beantragte Verschärfung des Hausarrests

Das gleiche Prinzip bei Staatsanwältin Brigida Lo Curto: sie beantragte in der Anhörung die Bestätigung des Arrests und zusätzlich die Anwendung der strengeren Maßnahme des Hausarrests mit elektronischer Fußfessel (misura cautelare degli arresti domiciliari con braccialetto elettronico) – wie im Protokoll vermerkt:´

PUBBLICO MINISTERO – Sì. Il Pubblico Ministero insiste come in atti, chiedendo la convalida dell’arresto, l’applicazione della misura cautelare degli arresti domiciliari.

Doch was genau in den „atti“ (den Akten) stand, wurde weder vorgelesen noch zusammengefasst noch begründet. Es wurde nicht erklärt, auf welcher rechtlichen oder tatsächlichen Grundlage eine solche Verschärfung der Maßnahme beantragt wurde. Auch der Begriff „braccialetto elettronico“, der erhebliche Grundrechtseingriffe bedeutet, fiel nicht.

Die Angeklagte erhielt damit keine reale Möglichkeit, sich zu dem Antrag zu äußern – weil sie den Inhalt nicht kannte.

11. Verweigerung eines neuen Pflichtverteidigers trotz offenem Konflikt

Obwohl die Angeklagte den ihr zugewiesenen Pflichtverteidiger klar und unmissverständlich ablehnte – mit den Worten:

„Non lavoro con lui, lui non può parlare per me.“

– wurde ihr kein neuer Verteidiger zugewiesen. Das Gericht ließ die Anhörung dennoch mit demselben Anwalt fortsetzen – einem Verteidiger, der der Mandantin nicht nur die Unterstützung verweigerte, sondern ihr nachweislich aktiv schadete.Tatsächlich agierte er als der verlängerter Arm der Staatsanwaltschaft. Trotz des offenkundig unüberbrückbaren Konflikts und der daraus resultierenden Pflicht, einen neuen Pflichtverteidiger zu bestellen und die Anhörung auszusetzen, ließ der Richter das Verfahren fortsetzen – faktisch ohne Verteidigung.

Kein Hinweis in der Ordinanza

Trotz all dieser offensichtlichen Mängel – der fehlenden richterlichen Anordnung des Hausarrests, der rechtswidrigen Durchsuchung, der fehlenden Beweise für die angeblichen Straftaten, der unterlassenen Übersetzung, der nicht erfolgten Mitteilung der Anklagepunkte und der verweigerten Verteidigung – findet sich in der richterlichen ordinanza nicht ein einziger kritischer Vermerk.

Kein Zweifel an der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns. Kein Hinweis auf die verfassungswidrige Freiheitsbeschränkung durch die Carabinieri (Art. 13 Cost.). Keine Prüfung, ob die angeblichen Handlungen überhaupt strafbar waren – oder ob es sich, wie naheliegt, um einen legitimen Widerstand gegen eine unrechtmäßige Maßnahmehandelte.

Auch die vollständige Missachtung der sprachlichen Rechte der Angeklagten sowie die offensichtliche Unwirksamkeit ihrer Verteidigung durch einen abgelehnten Pflichtanwalt blieben ohne jede Konsequenz.

Stattdessen: die lückenlose Bestätigung jeder einzelnen Maßnahme, durchgehend zu Lasten einer unschuldigen und schutzlosen Angeklagten.

Und selbst dort, wo die Rechtslage keinen Interpretationsspielraum mehr ließ – etwa bei der fehlenden Strafbarkeit des vorgeworfenen Verhaltens – unterließ es der Richter, das Verfahren gemäß Art. 129 c.p.p. einzustellen, obwohl die gesetzliche Lage eindeutig war: “il fatto non sussiste”.

Anstelle des gesetzlich gebotenen Freispruchs entschied sich der Richter für die Eröffnung eines Prozesses – eine Entscheidung, die nicht nur rechtswidrig, sondern angesichts der Aktenlage vollkommen absurd erscheint.

Diese ordinanza dokumentiert nicht etwa eine rechtsstaatliche Kontrolle – sondern die Absenz von Kontrolle. Sie legitimiert Maßnahmen, die weder rechtlich noch moralisch haltbar sind, und macht sich damit zum Instrument eines institutionalisierten Rechtsbruchs.

Panne? Zufall? Oder gezielte Ausschaltung der Verteidigung?

Nach der Gesamtschau all dieser Punkte kann von Versehen, Überforderung oder Nachlässigkeit keine Rede mehr sein. Zu viele Entscheidungen und Unterlassungen liefen in dieselbe Richtung – und ausschließlich zu Lasten der Angeklagten.

Der Richter hat mit jedem einzelnen Schritt dafür gesorgt, dass die Angeklagte sprachlich, sachlich und rechtlich handlungsunfähig gemacht wurde und sie so vom Mensch systematisch zum Objekt des Verfahrens degradiert.

Diese Kette von Rechtsverletzungen ist kein Ausdruck persönlicher Nachlässigkeit, sondern eine aktive Entscheidung gegen die Grundprinzipien eines fairen Prozesses. Ein Richter, der so vorgeht, führt kein Verfahren mehr – er konstruiert ein Ergebnis.

Damit steht für die Angeklagte und ihr Umfeld fest: Die Entrechtung war nicht Folge von Inkompetenz, sondern deren Gegenteil – das Ergebnis bewusster Steuerung und gezielter Kontrolle über das Verfahren.

Ein Verfahren, das die Grundrechte nicht verteidigt, sondern systematisch unterläuft, gefährdet nicht nur den Einzelnen – es gefährdet die Glaubwürdigkeit der Justiz als Ganzes.